Ehre vor Abraham (Joh 8,58)
Jesus fand seine eigene Geschichte in den hebräischen Schriften beschrieben (Lukas 24,27). Die Rolle des Messias war dort klar dargelegt. Nichts in den heiligen Schriften deutete an, dass der Monotheismus des Alten Testaments durch das Erscheinen des Messias drastisch gestört werden würde. Es gibt eine Menge an Beweisen für die Annahme, dass die Apostel keinen Moment lang die absolute Einheit Gottes in Frage gestellt hätten oder dass das Erscheinen Jesu ein Problem für den Monotheismus aufgeworfen hätte. Deshalb stört es die Einheit der Bibel, wenn man annimmt, dass Jesus in einer oder zwei Textstellen im Johannesevangelium sein eigenes Glaubensbekenntnis, dass der Vater der allein wahre Gott ist (Johannes 17,3), über den Haufen wirft oder dass er sich selbst aus der Kategorie der menschlichen Wesen herausnimmt, indem er von einer bewussten Existenz seit Ewigkeit spricht. Sicherlich kann man sein Gebet um die Herrlichkeit, die er vor Grundlegung der Welt hatte (17,5) einfach verstehen und zwar als Wunsch nach der Herrlichkeit, die im Plan des Vaters für ihn vorbereitet war. Die Herrlichkeit, die Jesus für seine Jünger beabsichtigte, war bereits ebenso gegeben (17,22), aber die Jünger hatten sie noch nicht erhalten. (In einigen jüdischen Schriften wird dem Messias Präexistenz zugeschrieben, doch nur gemeinsam mit anderen verehrungswürdigen Dingen und Personen, wie dem Tabernakel, dem Gesetz, der Stadt Jerusalem, dem Gesetzgeber Mose selbst und dem Volk Israel (Ottley, Doctrine of Incarnation; S. 59))
Es war typisch für das jüdische Denken, dass alles von höchster Wichtigkeit in Gottes Absicht, wie z.B. Mose, das Gesetz, die Buße, das Reich Gottes und der Messias – mit Gott bereits von Ewigkeit her existierten. In diesem Sinn kann Johannes schreiben, dass die Kreuzigung vor den Erschaffung der Welt stattgefunden hatte (Offenbarung 13,8). Petrus, der spät im ersten Jahrhundert schrieb, kannte die Präexistenz Jesu nur als Präexistenz im Vorherwissen Gottes (1. Petrus 1,20). Seine Predigten in den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte spiegeln diese Sichtweise exakt wider.
Doch was ist mit dem bekanntesten Beweistext in Johannes 8,58, dass Jesus bereits vor Abraham gelebt hatte? Bringt Jesus letztendlich alles durcheinander, wenn er auf der einen Seite sagt, dass der Vater alleine der einzig wahre Gott ist (17,3; 5,44) und dass er selbst nicht Gott ist, sondern der Sohn Gottes (10,36) und auf der anderen Seite, dass er, Jesus, ebenso ein unerschaffenes Wesen ist? Bestimmt er seinen Status innerhalb des Zusammenhangs des Alten Testaments (Johannes 10,36; Psalm 82,6: 2,7) nur deshalb, um dann zu sagen, er sein bereits vor der Geburt Abrahams am Leben gewesen und so ein unlösbares Rätsel aufzustellen? Sollte dass Problem der Dreieinigkeit, das niemals zufriedenstellend erklärt werden konnte, nur wegen eines einzigen Textes im Johannesevangelium hervorgebracht werden? Wäre es nicht weiser, Johannes 8,58 im Licht von Jesu späterer Darstellung in 10,36 sowie im Zusammenhang mit dem Rest der Schrift zu betrachten?
In der gänzlich jüdischen Denkweise, die das Johannesevangelium durchzieht, ist es ganz natürlich zu denken, dass Jesus in einer Art und Weise sprach, die damals unter jenen gebräuchlich war, die in der Tradition der Rabbiner ausgebildet worden waren. Im jüdischen Kontext bedeutet nicht, dass jemand, der behauptet „präexistiert“ zu haben, ein unerschaffenes Wesen ist. Es impliziert jedoch eine sehr wichtige Bedeutung im Plan Gottes. Jesus ist sicherlich der zentrale Grund für die Schöpfung. Doch die schöpferische Aktivität des einen Gottes und sein Erlösungsplan wurden nicht vor der Geburt Jesu in einem einzigartigen erschaffenen Wesen, dem Sohn, manifestiert. Die Person Jesus wurde erschaffen, als Gottes Selbstausdruck in einem menschlichen Wesen Form annahm (Johannes 1,14). Vergleiche mit G.B. Caird, The Development of the Doctrine of Christ in the New Testament, S. 79: „Die Juden glaubten nur an die Präexistenz einer Personifikation; die Weisheit war eine Personifikation, entweder einer göttlichen Eigenschaft oder eines göttlichen Zwecks, doch niemals eine Person selbst. Weder das vierte Evangelium noch der Hebräerbrief sprechen von einem ewigen Wort oder der Weisheit Gottes in Ausdrücken, die uns dazu veranlassen, es als Person zu verstehen.“
Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, dass Jesus und die Juden oft aneinander vorbei redeten. In Johannes 8,57 sagte Jesus nicht, wie es die Juden verstanden, dass er Abraham gesehen hatte, sondern dass Abraham sich freute, den Tag des Messias zu sehen (V. 56). Der Patriarch erwartete, am Tag des Messias aufzuerstehen (Johannes 11,24; Matthäus 8,11) und am messianischen Königreich teilzunehmen. Jesus beanspruchte, Abraham überlegen zu sein – doch in welchem Sinn? Als Lamm Gottes war er vor der Erschaffung der Welt gekreuzigt worden (Offenbarung 13,8; 1. Petrus 1,20), aber natürlich nicht im wahrsten Sinne des Wortes, sondern in Gottes Plan. Auf diese Weise war Jesus also vor Abraham. So konnte Abraham nach vorwärts auf das Kommen des Messias und seines Königreiches schauen. Der Messias und sein Reich existierten deshalb vorher in dem Sinne, dass sie von Abraham mit Augen des Glaubens gesehen worden waren. So sagt H.H. Wendt, D.D., wenn er über Johannes 8,58 schreibt: „Das irdische Leben Jesu war von Gott vorherbestimmt und vorhergesehen, lange vor der Zeit Abrahams (The Teachings of Jesus, Vol II, s.176).
Der Ausdruck „Ich bin“ in Johannes 5,58 bedeutet sicherlich nicht „Ich bin Gott“. Es ist, wie vielfach angenommen, nicht der göttliche Name, der in 2. Mose 3,14 gebraucht wird, als Jahwe erklärt: Ich bin der selbst – existierende Eine (ego eimi o ohn). Jesus beanspruchte keinesfalls diesen Titel. Die richtige Übersetzung des ego eimi in Johannes 5,58 ist : „Ich bin er“ – der versprochene Christus (vergleiche denselben Ausdruck in Johannes 4,26: ‚Ich, der zu euch spricht, bin er‘ (der Christus) ). Bevor Abraham geboren wurde, war Jesus schon im Voraus bekannt (1. Petrus 1,20). Jesus beansprucht hier in außergewöhnlicher Weise seine äußerste Wichtigkeit in Gottes Plan. Vgl. Edwin Freed in JTS, 33,1982, s. 163: „In Johannes 8,24 muss ‚ego eimi‘ (‚ich bin‘) als Hinweis auf das Messiastum Jesu verstanden werden... „Wenn ihr nicht glaubt, dass ich dieser bin, so werdet ihr in euren Sünden sterben“.
Buzzard, Anhony: Wer ist Jesus?