Wer ist der Sohn des Menschen?
(Who is the Son of Man?) Von Servetus the Evangelical
Der Begriff ben adam taucht in der hebräischen Bibel (AT) 107 Mal auf und bedeutet „Sohn des Menschen“ (oder „Menschensohn“). In den meisten Fällen ist dieser Begriff ein semitisches Idiom, das als Umschreibung gebraucht wird, um das Personalpronomen „ich“ oder „mich“ zu vermeiden, vielleicht wegen der Bescheidenheit des Schreibers oder um mit Absicht eine demütige, bescheidene Haltung zu vermitteln. Es gibt aber ein Beispiel, in dem dieser Begriff nicht in diesem Sinne verwendet worden ist. In dem Buch Daniel wird in einer prophetischen Vision von vier Tieren berichtet, die vier aufeinanderfolgende heidnische Reiche versinnbildlichen sollen. Der Verfasser schreibt über das Ende dieser Periode: „Ich schaute in Visionen der Nacht: Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie der Sohn eines Menschen. Und er kam zu dem Alten an Tagen [GOTT], und man brachte ihn vor IHN. Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, und alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergeht, und sein Königtum so, dass es nicht zerstört wird“ (Dan 7, 13-14). Daniel schreibt dann, dass ein Engel ihm in den Visionen alles erklärt hat (Dan 7, 15-27). Daniel 2, 4 - 7, 28 ist in aramäischer Sprache geschrieben worden, so dass „Sohn eines Menschen“ die Übersetzung von ke bar enash ist. In der neueren Zeit haben Theologen sich sehr für die Person interessiert, die hinter Daniels Sohn eines Menschen steckt. Dieser Titel ist für Christen sehr relevant, weil Jesus ihn viel häufiger als jeder andere zu seiner Selbstidentifizierung verwendet hat. Aber welche Bedeutung hat dieser Titel nun? Es stellt sich auch die Frage, ob Jesus ihn aus der Vision Daniels übernommen hat?
Es hat zu keiner Zeit eine Übereinstimmung unter den Gelehrten über die Bedeutung von Daniels Sohn eines Menschen gegeben, weder im Christentum noch im Judentum. Die christliche Orthodoxie hat darin die Bezeichnung für eine ganz bestimmte Person gesehen, - entweder für den Messias oder für den präexistenten Logos-Sohn. Aber heute sehen die meisten christlichen Gelehrten in dieser Bezeichnung nicht mehr die Darstellung einer bestimmten Person. Auch die jüdischen Theologen nicht, - sie interpretieren diesen Begriff als ein Sinnbild für jüdische Heilige. Trotzdem glauben sie auch, dass Jesus sich in seiner Selbstbezeichnung auf diesen Begriff gestützt hat.
Im Altertum haben die Juden Daniels Sohn des Menschen als eine Person interpretiert, die den Messias repräsentiert. Aber wegen der Zwei Gewalten-Lehre des Bar Kochba-Aufstandes in den Jahren 132-135 n. Chr. und vielleicht auch als Opposition gegenüber dem christlichen Dogma haben die jüdischen Theologen später dann ihre Meinung geändert und den Sohn des Menschen nur noch als ein Sinnbild für jüdische Heilige interpretiert, die in der letzten Zeit leben werden. Diese Auffassung, auch „generische Interpretation“ genannt, steht der „messianischen Interpretation“ gegenüber. Man nennt sie auch die „jüdische Heilige-Interpretation“ und stützt sich auf sie, indem man die Entstehung des Buchs Daniel in die Zeit der jüdischen Unterdrückung während der Makkabäerperiode des 2. Jahrhunderts v. Chr. datiert.
Aber verschiedene Merkmale sprechen gegen diese späte Datierung. Deshalb ist die messianische Interpretation von Daniel 7 korrekt, wonach Jesus zu Recht diesen Sohn des Menschen auf sich bezogen hat. Denn erstens steht in Daniel 1-7 nichts über Juden geschrieben; sie werden erst im restlichen Teil des Buches erwähnt. Joyce Baldwin bringt es genau auf den Punkt, wenn sie sagt, dass Daniel sehr viel wahrscheinlicher die Gestalt des „Sohnes Israels/Jakobs“ verwendet hätte als den universalistischen „Sohn des Menschen“, wenn er die Absicht gehabt hätte, jüdische Heilige zu beschreiben. In der Tat ist dieser Titel der Schlüssel zur Identifikation der Heiligen. Das heißt, ein universalistischer „Sohn des Menschen“ korrespondiert mit einer universalistischen Menge von Heiligen. Und zweitens korrespondieren die Heiligen dann – sie sind in Dan 7, 18, 22, 25, 27 erwähnt – mit „alle Völker, Nationen und Sprachen“, und das sind nicht nur Juden, sondern auch Heiden aus aller Welt. Drittens, - der Sohn des Menschen, der auf einer Wolke kommt, legt eher eine Einzelperson nahe als eine große Menschenmenge. Viertens, - da die symbolischen vier großen Tiere in Wirklichkeit „vier Könige“ sind (V. 17), die ihre Königreiche personifizieren und da der Sohn des Menschen ihnen gegenübergestellt ist, muss, wenn man hermeneutische konsequent sein will, der Sohn des Menschen sich auch auf ein wirkliches menschliches Wesen beziehen. Fünftens, - das qualifizierende Wort „wie” scheint unnötig zu sein, wenn der Sohn des Menschen nur symbolisch zu verstehen ist. Daniels Vision schließt eine Gerichtsszene im Himmel mit ein, mit dem Alten an Tagen (GOTT) und Seinem himmlischen Hofstaat, bestehend aus einer Reihe besonderer Engel, die gegen den vierten König Gericht halten, der Krieg gegen die Heiligen geführt und sie besiegt hat (Verse 10-12, 21, 26-7). Richard Bauckham identifiziert diese Engel zu Recht als die 24 himmlischen Ältesten (Off 4, 4, 10; 11, 16). Da Daniel die vier realen menschlichen Könige dem Sohn des Menschen gegenüberstellt, folgt daraus, dass auch dieser ein menschlicher König ist. Dazu kommt, dass ihm „Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben wurde.“ Der Sohn des Menschen verkörpert sein Königreich genauso wie die vier Könige ihre Königreiche verkörpern. Daher ist der Sohn des Menschen kein Bild für die leidenden Heiligen, sondern er tritt für sie als ihr König ein.
Einige Theologen, die die generische Interpretation übernommen haben, bestreiten, dass der Sohn des Menschen der Messias ist, weil in Daniel 7 nicht gesagt wird, dass er sein Königreich auf die Erde bringen wird. Aber in Daniel Kapitel 2, das mit Daniel Kapitel 7 korrespondiert, wird berichtet, dass das Königreich auf die Erde kommen wird (V. 44). Jesus hat ganz sicher geglaubt, dass aus Daniel 2 und Daniel 7 geschlossen werden kann, dass der Sohn des Menschen eine bestimmte Person ist, die vom Himmel auf die Erde herabsteigen wird. Denn nachdem Jesus bei seinem Verhör vor dem Hohen Rat bestätigt hat, der Messias, der Sohn GOTTES, zu sein, hat er erklärt: „Von nun an werdet ihr den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen auf den Wolken des Himmels“ (Matth 26, 64), was auch eine Anspielung auf Psalm 110, 1 und Dan 7, 13 gewesen ist. Viele der „Sohn des Menschen-Aussagen“ Jesu stehen im Zusammenhang mit seinen Voraussagen auf sein bevorstehendes Leiden und seinen Tod. Er verbindet deswegen Jesajas Motiv des leidenden Gottesknechts aus Jesaja 42–53 mit Daniels Sohn des Menschen. Ja, Jesus ist das Modell des Leidens für sein leidendes Volk gewesen. Viele christliche Theologen, die zustimmen, dass Daniels Sohn des Menschen einen tatsächlichen Menschen repräsentiert, bestreiten nichtsdestotrotz, dass er ein König ist, der auf der Erde Kriege führen wird. Einige lehnen die jüdische Tradition ab, dass der zukünftige davidische Messias Krieg gegen die Feinde Israels führen wird und dass er die leidende Nation befreien und sie als das Haupt der Nationen einsetzen wird. Damit haben sie aber nicht Recht.
Obwohl Jesus ethisches Handeln, einschließlich des Frieden stiften, gelehrt hat, ist die strafende Vernichtung durch den Messias am Ende des Zeitalters in den Propheten sehr gut bestätigt. Auch Daniel hat dieses bestätigt, wenn er schreibt: „Du schautest, bis ein Stein losbrach, und zwar nicht durch Hände, und das Bild an seinen Füßen aus Eisen und Ton traf und sie zermalmte“ (Dan 2, 34) und „es wird all jene Königreiche zermalmen und vernichten“ (V. 44). Jesus als der Sohn des Menschen wird also ein König sein, der Krieg führen wird, wenn er mit seinem Königreich auf die Erde zurückkehren wird.
In meinem Buch The Restitution of Jesus Christ habe ich 20 Seiten der Untersuchung von Daniels Sohn des Menschen gewidmet. Hierin habe ich 44 Gelehrte und ihre Werke aus der jüngeren Zeit zitiert; ebenso auch viele außerbiblische Schriften aus der Antike.
Dieser Artikel stammt von Kermit Zarley (Servetus the Evangelical). Auf seiner Webseite – servetustheevangelical.com – kann man 50 solcher Artikel in englischer Sprache lesen. Sie sind eine Zusammenfassung seines sorgfältig recherchierten, biblisch in die Tiefe gehenden, 600-seitigen Buches mit dem Titel: The Restitution of Jesus Christ (2008)