Wer ist in 1. Joh 5,20 der „wahrhaftige GOTT”?
(Who Is “the True God” in 1 John 5.20?) Von Servetus the Evangelical
Spätere Kirchenväter haben einmütig 1. Joh 5, 20 als einen der grundlegenden Verse zitiert, der ihren Glauben unterstütze, dass Jesus Christus GOTT ist. Zusammen mit dem vorangehenden Vers heißt es dort: „Wir wissen, dass wir aus GOTT sind, und die ganze Welt liegt in dem Bösen. Wir wissen aber, dass der Sohn GOTTES gekommen ist und uns Verständnis gegeben hat, damit wir den Wahrhaftigen erkennen; und wir sind in dem Wahrhaftigen, in Seinem Sohn Jesus Christus. Dieser ist der wahrhaftige GOTT und das ewige Leben“ (1. Joh 5, 19-20).
In der christologischen Diskussion um 1. Joh 5, 20 geht es um die Grammatik. Die Frage ist, auf wen sich das Pronomen „Dieser“ (Gr. houtos) bezieht. Wenn houtos auf das am nächsten stehende Bezugswort verweist, das in unseren Übersetzungen in der Regel „Jesus Christus“ ist, dann nennt dieser Vers ihn indirekt „GOTT“. Wenn houtos sich aber auf die Hauptperson des vorhergehenden Teilsatzes bezieht, „den Wahrhaftigen“, womit „GOTT“, d.h. der Vater, gemeint ist, dann wird Jesus in diesem Vers nicht „GOTT“ genannt.
Dass houtos sich in 1. Joh 5, 20 auf „Jesus Christus“ bezieht, woraus sich dann ergibt, dass er „der wahrhaftige GOTT“ genannt wird, ist unter der Theologenschaft seit dem 4. Jahrhundert die vorherrschende Meinung. Oft versucht man sie mit folgenden Begründungen zu untermauern (entsprechende Entgegnungen sind gleich angefügt):
1. Eine ordentliche Grammatik erfordert, dass houtos auf das unmittelbar vorangehende Bezugswort verweist, was „Jesus Christus“ ist.
Entgegnung: Dieser bei uns übliche Sprachgebrauch kann für das neutestamentliche Griechisch nicht nachgewiesen werden. Für viele anerkannte Griechisch-Grammatiker, die ganz sicher eine grammatische Interpretation favorisieren würden, ist „GOTT“, der Vater, die Referenz zu houtos. Der Textkritiker B.F. Westcott erklärt: „Soweit die grammatische Konstruktion des Satzes betroffen ist, kann sich das Pronomen houtos entweder auf ‚in dem Wahrhaftigen‘ oder auf ‚Jesus Christus‘ beziehen. Die natürlichste Bezugnahme ist jedoch nicht das lokal nächststehende, sondern das im Denken des Apostels vorherrschende Subjekt. ... Das ist ganz offensichtlich „der Wahrhaftige“, der durch die Hinzufügung „Seines Sohnes“ noch weiter beschrieben wird. Damit fasst dieses Pronomen die Offenbarung zusammen, die in den Worten, die danach folgen, angedeutet ist ... dass GOTT, den Vater, zu kennen, ewiges Leben bedeutet.“
2. Niemand würde in einem so kurzen Abschnitt drei Mal gebetsmühlenartig wiederholend den Vater „den Wahrhaftigen“ nennen.
Entgegnung: Wiederholungen gehören zum Stil dieses Verfassers. Allerdings wiederholt er sich hier nicht drei Mal, sondern identifiziert die zunächst nicht ganz eindeutig bezeichnete Person– „der Wahrhaftige“ – als den „wahrhaftigen GOTT“. Weiterhin ist es auch sehr unwahrscheinlich, dass ein Autor sich in einem einzigen Vers zwei Mal auf den Vater als „den Wahrhaftigen“ bezieht und dann ohne weitere Erklärung umschwenkt und Jesus Christus „den Wahrhaftigen“ nennt.
3. Die Bezeichnung „ewiges Leben“ muss auf Jesus Christus bezogen werden und damit ist er auch der „wahrhaftige GOTT“, denn Jesus Christus wird in 1. Joh 1, 1-2 (und in Joh 11, 25 und 14, 6) „Leben“ genannt.
Entgegnung: Der Prolog in 1. Joh 1 zeigt aber klar und deutlich, dass der Ursprung des ewigen Lebens allein „bei dem Vater war und uns offenbart worden ist“ durch „Seinen Sohn Jesus Christus“ (1. Joh 1, 2-3; s.a. 5, 11). Darum ist GOTT die einzige Quelle des ewigen Lebens für alle Menschen, unter denen auch Jesus mit eingeschlossen ist, wie er selbst mit eigenen Worten bezeugt hat (Joh 5, 26; 7, 57).
In den letzten zwei Jahrhunderten haben viele Neutestamentler houtos in 1. Joh 5, 20 so verstanden, dass es sich auf GOTT, den Vater, bezieht und zwar aus folgenden Gründen:
1. In den Versen 19 und 20 hat der Schreiber dieses Briefes „GOTT“ und den „Sohn GOTTES“ klar und deutlich voneinander unterschieden und somit „GOTT“ als den Vater und Jesus Christus als den „Sohn GOTTES“ identifiziert. Damit hat er festgelegt, dass „der wahrhaftige GOTT“ im nachfolgenden Text auf den Vater bezogen werden muss.
2. Obwohl das Neue Testament den Vater und Jesus „wahrhaftig“ nennt, bezeichnet es in Übereinstimmung mit dem Alten Testament und dem jüdischen Glauben nur den Vater als „den wahrhaftigen/wahren GOTT“.
3. Paulus spricht von dem Vater als „dem lebendigen und wahren GOTT“ und unterscheidet IHN auch von „Seinem Sohn“ (1. Thess 1, 9-10).
4. Wenn houtos in 1. Joh 2, 22 und 2. Joh 7 auf das jeweils am nächsten stehende Bezugswort verweist, dann identifiziert es Jesus als „(den Lügner) und Antichrist.“
5. Die Warnung in 1. Joh 5, 21, sich vor den „Götzen“ zu hüten, unterstreicht, dass houtos im vorangehenden Vers sich auf GOTT (den Vater) bezieht, weil die Juden oft GOTT und die Götzen gegenübergestellt haben.
6. Da der Autor in 1. Joh 4, 12 geschrieben hat: „Niemand hat GOTT jemals gesehen.“ (s.a. Joh 6, 46), wäre es sehr widersprüchlich, wenn er wenig später schreiben würde, dass Jesus „GOTT“ ist.
7. Der Autor tauscht die Worte „GOTT“ und „der Vater“ immer wieder untereinander aus, woraus deutlich wird, dass sie für ihn gleichbedeutend sind. Ganz anders ist es mit „GOTT“ und „den Sohn“ (bzw. „Seinen Sohn“); diese stellt er einander gegenüber und unterscheidet sie so voneinander (1. Joh 4, 9-10; 14-15; 5, 9-11).
8. Wie Johannes berichtet hat, hat Jesus zu dem „Vater“ gebetet und IHN „den allein wahren/wahrhaftigen GOTT“ genannt (Joh 17, 1+3).
9. Der zweite Satz in 1, Joh 5, 20 ist eine Zusammenfassung des ersten Satzes.
C.H. Dodd hat die Sichtweise übernommen, dass 1. Joh 5, 20 Jesus Christus nicht als GOTT identifiziert. Er erklärt: „Der Schreiber fasst in seinen Gedanken all das zusammen, was er über GOTT gesagt hat ... und dieser, fügt er hinzu, ist der wahrhaftige GOTT, ... ist das ewige Leben.“
Murray Harris, ein Trinitarier und eine Autorität in Sachen neutestamentliches Griechisch hat diese Fragen zu 1. Joh 5, 20 sehr gründlich untersucht und kommt zu dem Schluss: „Obwohl es sicherlich möglich ist, dass houtos sich auf Jesus Christus bezieht, zeigen doch verschiedene auf den selben Punkt hinlaufende Beweislinien auf „den Wahrhaftigen“, auf GOTT, den Vater, als die wahrscheinliche Bezugsperson hin. Diese Auffassung, houtos = GOTT, wird von vielen Auslegern, von Verfassern ausführlicher Studien und bezeichnenderweise auch von solchen Grammatikern vertreten, die ihre Meinung zu diesem Thema äußern.“ Und Harris zitiert eine ganze Reihe von diesen Gelehrten.
Allerdings ist die akademische Meinung recht gleichmäßig verteilt, ob houtos in 1. Joh 5, 20 sich auf Jesus Christus oder auf GOTT, den Vater, bezieht. Einige namhafte Ausleger glauben, dass diese Frage nie zu klären sein wird. William Barclay sagt zu diesem Thema: „Wir werden wohl nie ganz sicher sein können ... es bestehen derartige Zweifel, dass wir auf diesem Abschnitt kein festes Argument aufbauen können.“
Nach Abwägung aller Argumente scheint es ziemlich sicher zu sein, dass der Verfasser von 1. Joh 5, 20 nicht die Absicht hatte, Jesus als den „wahrhaftigen GOTT“ zu bezeichnen, vor allem nicht ohne weitere Erklärung.
Dieser Artikel stammt von Kermit Zarley (Servetus the Evangelical). Auf seiner Webseite – servetustheevangelical.com – kann man 50 solcher Artikel in englischer Sprache lesen. Sie sind eine Zusammenfassung seines sorgfältig recherchierten, biblisch in die Tiefe gehenden, 600-seitigen Buches mit dem Titel: The Restitution of Jesus Christ (2008)