Jesus vor Abraham (Johannes 8,58)
In Joh. 8,58 beansprucht Jesus Überlegenheit über Abraham. Seine oberste Stellung hängt jedoch vom Vater ab, der Seinen Sohn verherrlicht (Joh. 8,54). Er stellt fest, dass Abraham sich freute „seinen Tag zu sehen“ (Joh. 8,56) - das heißt, Abraham sah im Glauben die Ankunft des Messias noch vor seinem tatsächlichen Kommen. Der Tag des Messias „präexistierte“ sozusagen in der Vorstellung Abrahams.[1] Die Juden missverstanden, was Jesus gesagt hatte und glaubten, er nehme in Anspruch, ein wirklicher Zeitgenosse Abrahams zu sein (Joh. 8,57). Jesus bestätigte wiederum seine absolute Vorrangstellung in Gottes Plan mit seiner erstaunlichen Aussage: „Bevor Abraham war, bin ich“ (Joh. 8,58). Um die Bedeutung des Ausdrucks „ich bin“ in dieser Passage zu verstehen, ist es wichtig, sie mit der häufigen Verwendung bei Johannes an verschiedenen anderen Stellen zu lesen, wo sie im Zusammenhang mit der Messiasrolle Jesu stehen:
Joh. 18,5: „Er sprach zu ihnen: Ich bin es“ (und identifizierte sich damit als derjenige, den sie suchten).
Joh. 6,20: „Er aber spricht zu ihnen (als er am Wasser ging): Ich bin es (wörtlich: ich bin), fürchtet euch nicht!“
Joh. 9,9: „(Der von Blindheit geheilte Bettler) sagte: Ich bin es. (Um auszudrücken: Ich bin derjenige).
Joh. 4,26: „Jesus spricht zu ihr: Ich bin es, der mit dir redet“ (d.h. der Messias; V. 25).
Joh. 8,24: „...wenn ihr nicht glauben werdet, dass ich es bin, werdet ihr in euren Sünden sterben...“
Joh. 8,28: „Wenn ihr den Sohn des Menschen erhöht haben werdet, werdet ihr erkennen, dass ich es bin.“
Joh. 13,19: „Von jetzt an sage ich es euch, ehe es geschieht, damit ihr, wenn es geschieht, glaubt, dass ich es bin.“
Joh. 9,35-37: „Glaubst du an den Sohn des Menschen?.........der mit dir redet, der ist es.“ Vgl.
Joh. 10,24–25: „Wenn du der Christus bist, so sage es uns frei heraus. Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, und ihr glaubt mir nicht...“
Joh. 8,58: „Ehe Abraham war, bin ich.“
An dieser Stelle muss die ausdrücklich festgestellte Absicht von Johannes für die Verfassung des Evangeliums beachtet werden. Sein Ziel war, dass wir „glauben, dass Jesus der Christus ist und damit wir durch den Glauben Leben haben in seinem Namen“ (Joh. 20,31). Die Tatsache, dass Gott im Alten Testament von sich selbst als „Ich bin“ spricht, darf nicht, wie so oft geschehen, zu der Annahme verleiten, dass bei Jesus ein „Ich bin“ bedeutet, er sei Gott im trinitarischen Sinn. Die „Ich bin“ - Aussagen Jesu im Johannesevangelium können zur Genüge mit seinem Anspruch erklärt werden, der Messias zu sein. Als solcher präsentiert sich Jesus als einzigartiger Vertreter des Einen Gottes, von dem er auch befähigt wurde, an Seiner Stelle zu handeln.
Sogar wenn wir die ego eimi („Ich bin“) Aussagen Jesu mit den Worten Gottes im Alten Testament vergleichen, so würde es noch immer keine Berechtigung geben, Jesus mit Gott im trinitarischen Sinn zu vergleichen. Jesus kann als Messias einen göttlichen Titel tragen, ohne Gott zu sein. Sobald man das jüdische Prinzip der „Vertreterschaft“ in Betracht zieht, kann schnell verstanden werden, dass Jesus seinen Vater vollkommen widerspiegelt. Als Vertreter Gottes kann er für seinen Obersten sprechen und handeln, so dass die Taten Gottes in Jesus manifest werden. Trotzdem macht nichts von alledem Jesus zu Gott. Er bleibt der menschliche Messias, der von der Schrift versprochen wurde. Die trinitarische Theologie zeigt oft ein anti-messianisches Vorurteil und „überliest“ die Tatsachen bei Johannes, indem sie seine einfachen monotheistischen Aussagen, die den Vater als den „allein wahren Gott“ definieren, der von Seinem Sohn unterschieden werden muss (Joh. 17,3; 5,44), nicht bemerken. Diese Vorgangsweise stellt Johannes in Gegensatz zu Matthäus, Markus und Lukas. Sie verschleiert auch die zentrale Aussage des Neuen Testamentes, welches die Identität Jesu als Messias verkündigt.
Die Beweise, welche uns vorliegen (und oben genannt wurden), zeigen uns die Bedeutung der bekannten Aussage ego eimi : „Ich bin der Verheißene“, „der, nach dem gefragt wurde“. Der ehemals Blinde identifiziert sich als „Ich bin die Person, die ihr gesucht habt“, als „Ich bin derjenige“. In Zusammenhängen, bei denen der Menschensohn oder der Christus diskutiert werden, beansprucht Jesus “Ich bin es“, d.h. der Menschensohn, der Christus. In jedem dieser Fälle ist es gerechtfertigt, an das „Ich bin“ ein „er“ anzufügen (Ich bin er oder Ich bin es). Es gibt allen Grund, beständig zu sein und in Joh. 8,58 ebenfalls ein „er“ anzufügen. Ebenso in Joh. 4,26: „Ich bin“ = Ich bin es, der Messias“. In Joh. 8,58 sagt Jesus ebenso: „Ehe Abraham war, bin ich - der verheißene Messias“.
Es ist wichtig zu bemerken, dass Jesus nicht den Ausdruck benutzt, der Mose Gottes Namen offenbarte. Beim brennenden Dornbusch verkündigte Gott Seinen Namen durch „Ich bin, der ich bin“ oder „Ich bin der allein existiert“ (2. Mose 3,14). Diese Aussage heißt in der griechischen Ausgabe des Alten Testaments ego eimi ho hown, und das ist sehr verschieden von den „Ich bin“ Aussagen Jesu. Wenn Jesus wirklich beansprucht hätte, Gott zu sein, so ist es sehr verwunderlich, dass er in einer folgenden Auseinandersetzung mit den feindlichen Juden behauptet, nicht Gott zu sein, sondern der einzigartige Vertreter Gottes, der den Titel „Sohn Gottes“ trägt (Joh. 10,34-36).
Es ist gerechtfertigt zu fragen, wie jemand „sein kann“, bevor er tatsächlich ist. Ist die traditionelle Lehre der Inkarnation einer zweiten göttlichen Person der einzig mögliche Weg, die Aussagen über Präexistenz bei Johannes zu verstehen? Das Muster der „Vorsehungs-Sprache“, die im Johannesevangelium gefunden wird, bedarf nicht einer tatsächlichen Präexistenz des Sohnes. Abraham freute sich, als er dem kommenden Messias entgegensah. Der Tag des Messias war durch die Augen des Glaubens für Abraham eine Realität. So existierte auch der Messias als oberstes Objekt des Planes Gottes lange vor der Geburt Abrahams. „Ehe Abraham war, bin ich (er)“ ist eine tiefgehende Aussage über Gottes Plan für die Welt mit Jesus, den Johannes auch als „gekreuzigt vor Grundlegung der Welt“ (Off. 13,8) bezeichnen konnte, als Mittelpunkt. Wir haben keine Schwierigkeiten zu verstehen, wie das gemeint ist: Jesus war der Bestimmte – und er war bestimmt zu sterben – lange vor Abraham, und als oberster Vertreter in Gottes Plan. Wenn Jesus „vor Abraham gekreuzigt wurde“, so kann von ihm behauptet werden, er habe im ewigen Ratschluss Gottes existiert. In diesem Sinn wurde er wirklich vor der Geburt Abrahams zum Retter der Welt bestimmt. Zur Unterstützung dieser Interpretation zitieren wir die Anmerkungen Gilberts. Dieser schreibt über Joh. 8,58:
„Jesus betont seinen messianischen Anspruch. Er sagt nicht, das logos habe vor der Geburt Abrahams existiert; er sagt „Ich bin“. Es ist Jesus der Messias, Jesus der Mensch, den der Vater zum messianischen Werk, von dem er spricht, geweiht hatte. Kurz zuvor sprach er noch von „meinem Tag“, den Abraham gesehen hatte (Joh. 8,56) und unter dem wir die historische Erscheinung Jesu als 208 Johannes, die Präexistenz und die Trinität Messias verstehen müssen. Abraham hatte das gesehen, im Versprechen eines Samens von Gott (1.Mo. 12,3; 15,4-5) und hatte es von ferne her gegrüßt (Hebr. 11,13). Und nun ist es dieser, der die ferne Vision Abrahams realisiert und sagt: „Ehe Abraham geboren wurde, bin ich“. So scheint Jesus zu versichern, dass seine historische messianische Persönlichkeit bereits vor der Geburt Abrahams existiert hatte. Wenn dies der Fall ist, so muss die Existenz vor Abraham als ideell gesehen werden.“[2]
Die Unklarheit von Johannes 8,58:
Kommentatoren des Johannesevangeliums fällt oft eine gewisse Unklarheit in den Aussagen Jesu auf, besonders im Zusammenhang mit der Unfähigkeit der feindlichen Juden, die Worte Jesu zu verstehen. Die Orthodoxie ist oft erpicht darauf, mit der Meinung der Juden gegen Jesus übereinzustimmen. Es wird oft behauptet, die Juden hätten geglaubt, Jesus hätte für sich in Anspruch genommen, Gott zu sein. Darum ist er es auch. Doch die feindliche Zuhörerschaft Jesu ist kein sicherer Führer die Absichten Jesu betreffend. Wir haben bereits gesehen, dass Jesus die Juden korrigieren musste, weil sie verstanden, er habe den Anspruch, Gott zu sein, erhoben hatte. Doch sein Anspruch war, der Sohn Gottes zu sein, welcher der Rang eines menschlichen Wesens ist. In Joh. 8,58 gibt es eine interessante grammatikalische Unklarheit, die eine andere Übersetzung möglich macht. Die Standardübersetzung: „Ehe Abraham geboren wurde, bin ich“, ist nicht die einzige Möglichkeit, das Griechische wiederzugeben.
Es ist eine Grundwahrheit der Sprache, dass der griechische Aorist Infinitiv seine Bedeutung durch den Zusammenhang erhält. Er kann sich auf vergangene oder zukünftige Ereignisse beziehen. So schreibt Matthäus: „ Ehe der Hahn kräht...“ (Mt. 26,34; prin, „ehe“ + Aorist Infinitiv). Doch an früherer Stelle im gleichen Evangelium finden wir: „Ehe sie zusammengekommen waren..“ (Mt. 1,18; prin + Aorist Infinitiv). Im Johannesevangelium lesen wir: „Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt“ (Joh. 4,49; prin + Aorist Infinitiv); „Und jetzt habe ich es euch gesagt, ehe es geschieht..“ (Joh. 14,29; prin + Aorist Infinitiv). Die Frage stellt sich nun: was ist die richtige Wiedergabe von Joh. 8,58? Sagte Jesus: „Ehe Abraham kommen wird (= bei der Auferstehung ins Leben zurückkehrt), bin ich“ oder: „Ehe Abraham ins Leben kam (= bevor er geboren wurde), bin ich?“
Es ist möglich, dass die Orthodoxie diesen Vers als Beweis der Präexistenz Christi missversteht. Nur wenige Verse zuvor sprach Jesus über die Auferstehung als Zuteilung des ewigen Lebens an jene, die ihm folgen (Joh. 8,51). Die Juden warfen ihm vor, dass dies Jesus über Abraham, der bereits tot war, stellte. Jesus rechtfertigt seinen Anspruch indem er aufzeigt, dass sich Abraham danach sehnte, den Tag des Messias zu sehen. Die Juden missverstanden Jesus, weil sie glaubten, er behaupte, er und Abraham seien Zeitgenossen. „Hast du Abraham gesehen?“ (Joh. 8,53; 56, 57). Es ist möglich, dass Jesus mit der erstaunlichen Aussage antwortete, er werde Abraham in der Auferstehung vorangehen. Bevor Abraham bei der Auferstehung Unsterblichkeit bekommt, wird Jesus lebendig und unsterblich sein. Das würde für die Behauptung völlig ausreichen, er sei höher als Abraham. Der Aorist Infinitiv von ginomai „zu kommen“ wird tatsächlich in der griechischen Septuaginta für die Auferstehung verwendet (Hiob 14,14: „Ich wollte harren, bis meine Ablösung /Auferstehung käme“).
Wenn wir den Text so lesen, wie ihn die Standardübersetzungen wiedergeben, so behauptet Jesus, der von Ewigkeit her bestimmte Messias zu sein. Er könnte aber auch seine Überlegenheit über Abraham auf eine andere Art dargelegt haben. Abraham sah den Triumph des Messias voraus. Jesus wird tatsächlich als auferstandener Erlöser ewiges Leben haben, lange bevor Abraham in der zukünftigen Auferstehung wiederkommt.
[1] Rabbinische Traditionen sagen aus, dass Abraham eine Vision der ganzen Geschichte seiner Nachkommen sah (Midrash Rabbah, XLIV, über 1. Mose 15,18). IV Esra 3,14 sagt, dass Gott Abraham eine Vision der Endzeit gewährte.
[2] The Revelation of Jesus, A Study of the Primary Sources of Christianity, 214, 215. Die Bemerkung, dass die ego eimi Aussage Jesu mit seiner Rolle als Messias zu tun haben, wird auch von Edwin Freed in „Ego Eimi in the Light of Its Context and Jewish Messianic Belief“, Journal of Theological Studies 33 (1982), 163- 167, gemacht. Vgl. auch Barrett, Essays on John (London: SPCK, 1982),71: “Das ego eimi Jesu ist nicht ein Anspruch auf Göttlichkeit; Johannes hat andere Wege, diesen Anspruch zu erheben, die sowohl deutlicher und vorsichtiger sind.“