Die personifizierte Weisheit (Sprüche 8,30)
Die Weisheit in Sprüche 8 wird als Indikator für eine reale Präexistenz Christi gedeutet. Wenn man sich die Verse anschaut, könnte man annehmen, es handelt sich um eine eigenständige Person, unabhängig von Gott. Wir lesen etwas von Geburt in Ewigkeit und von einem Schosskind. Manche Übersetzer schreiben Werkmeister oder auch Pflegekind. Eines des unstrittensten Wörter im Sprüchebuch. Strong (Nr. 525) schreibt zu אָ֫מ֥וֹן: From 'aman, probably in the sense of training; skilled, i.e. An architect (like 'aman) -- one brought up. Die Septuaginta LXX hat das Wort mit ἁρμόζουσα (Fügende, Harmoniewirkende) übersetzt, um eine aktive Mitwirkung während der Schöpfung anzudeuten.
JHWH besass mich im Anfang seines Weges, vor seinen Werken von jeher. Ich war eingesetzt von Ewigkeit her, von Anbeginn, vor den Uranfängen der Erde. Ich war geboren, als die Tiefen noch nicht waren, als noch keine Quellen waren, reich an Wasser. Ehe die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln war ich geboren; als er die Erde und die Fluren noch nicht gemacht hatte, und den Beginn der Schollen des Erdkreises. Als er die Himmel feststellte, war ich da, als er einen Kreis abmass über der Fläche der Tiefe; als er die Wolken droben befestigte, als er Festigkeit gab den Quellen der Tiefe; als er dem Meere seine Schranken setzte, dass die Wasser seinen Befehl nicht überschritten, als er die Grundfesten der Erde feststellte: da war ich Schosskind bei ihm, und war Tag für Tag seine Wonne, vor ihm mich ergötzend allezeit, mich ergötzend auf dem bewohnten Teile seiner Erde; und meine Wonne war bei den Menschenkindern. (Sprüche 8,22-31 Elb)
Die Weisheit hat scheinbar die Eigenschaften eines Geschöpfes, wobei oftmals vorschnell der Versuch unternommen wird, den Messias in diese Verse hineinzudeuten. Diese Vorstellung wird in erster Linie Anhänger des Arianismus (z.B. Zeugen Jehovas) freuen. Trinitarier nutzen diesen Abschnitt ebenfalls für die Hypostatisierung des Messias, doch Begriffe wie Schosskind oder Geburt schaffen neue Schwierigkeiten im Hinblick auf eine vollwertige Zweite Person der Dreieinigkeit. Gerne wird in diesem Zusammenhang Kolosser 1,16 zitiert, wo alles durch ihn geschaffen wurde. Jesus wäre somit der Werkmeister in Sprüche 8,30.
Es stellt sich aber folgendes Problem. In Sprüche 8 wird die Schöpfung alleine von Gott JHWH vollzogen. Es wird überhaupt nicht erwähnt, dass der Werkmeister bei der Schöpfung mitgewirkt hätte. Die Verse in Sprüche 8 lassen sich somit nur als poetische Personifikation verstehen. Es ist eine der Ursachen der Zersplitterung der Kirchenlandschaft. Ein kleiner Ausschnitt der Bibel wird als Dogma erhoben, ohne den Gesamtzusammenhang zu erkennen. Etwas ähnliches geschieht neuerdings unter dem Stichwort "Kontextualisierte Auslegung". Am Ende steht die vollständige Verwässerung des Evangeliums.
So spricht JHWH, dein Erlöser und der von Mutterleibe an dich gebildet hat: Ich, JHWH, bin es, der alles wirkt, der die Himmel ausspannte, ich allein, die Erde ausbreitete durch mich selbst; (Jesaja 44,24)
So spricht JHWH: Der Himmel ist mein Thron, und die Erde der Schemel meiner Füsse. Welches ist das Haus, das ihr mir bauen könntet, und welches der Ort zu meiner Ruhestätte? Hat doch meine Hand dieses alles gemacht, und alles dieses ist geworden, spricht JHWH. Aber auf diesen will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist, und der da zittert vor meinem Worte. (Jesaja 66,1-3)
Er hat die Erde gemacht durch seine Kraft, den Erdkreis festgestellt durch seine Weisheit und die Himmel ausgespannt durch seine Einsicht. (Jeremia 10,12)
Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darinnen ist, er, der ein HERR ist Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln mit Händen gemacht; (Apostelgeschichte 17,24)
Diese Verse können eigentlich nicht falsch verstanden werden, ausser man möchte sie falsch verstehen. Siehe auch Psalm 134,3; Psalm 124,8; Psalm 136,5; Psalm 96,5; Psalm 121,2; Psalm 115,15; Psalm 104,19; 2. Könige 19,15; Jesaja 45,1; Jesaja 45,18; Jesaja 51,13; 1. Chronik 16,26; Sacharja 12,1; Jona 1,9 usw.
Und JHWH antwortete Hiob aus dem Sturme und sprach: Wer ist es, der den Rat verdunkelt mit Worten ohne Erkenntnis? Gürte doch wie ein Mann deine Lenden; so will ich dich fragen, und du belehre mich! Wo warst du, als ich die Erde gründete? Tue es kund, wenn du Einsicht besitzest! Wer hat ihre Masse bestimmt, wenn du es weisst? Oder wer hat über sie die Messschnur gezogen? In was wurden ihre Grundfesten eingesenkt? Oder wer hat ihren Eckstein gelegt, als die Morgensterne miteinander jubelten und alle Söhne Gottes jauchzten? (Hiob 38,1-7)
Auch bei Hiob ist nur Gott JHWH aktiv am Bau der Erde beteiligt. Selbst wenn der präexistente Jesus einer der Söhne Gottes oder einer der Morgensterne wäre, liegt die Aktivität allein bei Gott JHWH. Es ist auch ein Zeichen seiner Allmacht. Gott braucht keine Helfer! Die Weisheit ist eine Eigenschaft JHWHs und keine eigenständige Person.
JHWH hat durch Weisheit die Erde gegründet, und durch Einsicht die Himmel festgestellt. Durch seine Erkenntnis sind hervorgebrochen die Tiefen, und die Wolken träufelten Tau herab. (Sprüche 3,19-20)
Wie viele sind deiner Werke, JHWH! Du hast sie alle mit Weisheit gemacht, voll ist die Erde deiner Reichtümer. (Psalm 104,24)
Ich, Weisheit, bewohne die Klugheit, und finde die Erkenntnis der Besonnenheit. (Sprüche 8,12)
Sprich zur Weisheit: Du bist meine Schwester! und nenne den Verstand deinen Verwandten; (Sprüche 7,4)
Wer ist denn dann die bewohnte Klugheit? Anthony Buzzard schreibt dazu, es ist wenig sinnvoll zu behaupten, die Weisheit in den Sprüchen (Frau Weisheit) sei der präexistente Jesus gewesen. Die Weisheit ist eine Personifikation einer göttlichen Qualität und nicht eine Person. Was durch alle grösseren Bibelkommentare bestätigt wird. Ein Messias, der kein Mensch ist, ist der heidnischen Idee von präexistenten Seelen und gnostischen "Aionen" viel näher. Vor dieser verderbenden heidnischen Invasion haben schon Petrus und Paulus gewarnt (2. Petr. 2; Apg. 20,29-31). [1]
Ein wichtiger Beweis für das poetische Verständnis dieses Abschnitts ist der weitere Textverlauf. Die "Frau Weisheit" und die "Frau Torheit" werden personifiziert dargestellt. Die Weisheit als fleissig, ihr Haus bauend und die Torheit wird als faul dargestellt. Es ist eine allegorische Gegenüberstellung von Weisheit und Torheit.
Die [Frau] Weisheit hat ihr Haus gebaut, hat ihre sieben Säulen ausgehauen; sie hat ihr Schlachtvieh geschlachtet, ihren Wein gemischt, auch ihren Tisch gedeckt; sie hat ihre Mägde ausgesandt, ladet ein auf den Höhen der Stadt: "Wer ist einfältig? er wende sich hierher!" Zu den Unverständigen spricht sie: "Kommet, esset von meinem Brote, und trinket von dem Weine, den ich gemischt habe! Lasset ab von der Einfältigkeit und lebet, und schreitet einher auf dem Wege des Verstandes!" - Wer den Spötter zurechtweist, zieht sich Schande zu; und wer den Gesetzlosen straft, sein Schandfleck ist es. Strafe den Spötter nicht, daß er dich nicht hasse; strafe den Weisen, und er wird dich lieben. Gib dem Weisen, so wird er noch weiser; belehre den Gerechten, so wird er an Kenntnis zunehmen. - Die Furcht JHWHs ist der Weisheit Anfang; und die Erkenntnis des Heiligen ist Verstand. Denn durch mich werden deine Tage sich mehren, und Jahre des Lebens werden dir hinzugefügt werden. Wenn du weise bist, so bist du weise für dich; und spottest du, so wirst du allein es tragen. Frau Torheit ist leidenschaftlich; sie ist lauter Einfältigkeit und weiss gar nichts. Und sie sitzt am Eingang ihres Hauses, auf einem Sitze an hochgelegenen Stellen der Stadt, um einzuladen, die des Weges vorübergehen, die ihre Pfade gerade halten: "Wer ist einfältig? er wende sich hierher!" Und zu dem Unverständigen spricht sie: "Gestohlene Wasser sind süss, und heimliches Brot ist lieblich". Und er weiss nicht, dass dort die Schatten sind, in den Tiefen des Scheols ihre Geladenen. (Sprüche 9,1-18)
Warum finden wir in den Evangelien nichts davon berichtet, dass Jesus gesagt hat, er sei der Schöpfer oder zumindest bei der Schöpfung beteiligt gewesen? Wir finden von ihm zu diesem Thema nur Aussagen, wie:
- Jesus sagt: Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Weib erschuf (Mt 19,4)
- Jesus sagt: am Anfang der Schöpfung aber hat GOTT sie erschaffen als Mann und Weib (Mk 10,6)
- Jesus sagt: von Anfang der Schöpfung, die GOTT erschaffen hat (Mk 13,19)
Jesus ist nicht die personifizierte Weisheit, sondern die Weisheit kommt vom Vater und wird Jesus gegeben.
Und ein Reis wird hervorgehen aus dem Stumpfe Isais, und ein Schössling aus seinen Wurzeln wird Frucht bringen. Und auf ihm wird ruhen der Geist JHWHs, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Kraft, der Geist der Erkenntnis und Furcht JHWHs; und sein Wohlgefallen wird sein an der Furcht JHWHs. (Jesaja 11,1-3)
dass der GOTT unsres Herrn Jesus Christus, der Vater der Herrlichkeit, euch den Geist der Weisheit und Offenbarung gebe in der Erkenntnis SEINER selbst (Epheser 1,17)
Wenn aber jemandem unter euch Weisheit mangelt, so erbitte er sie von GOTT, Der allen gern und ohne Vorwurf gibt, so wird sie ihm gegeben werden (Jakobus 1, 5)
Wie kann Jesus die Weisheit sein, wenn Jesus an Weisheit zunimmt?
Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gunst bei Gott und Menschen. (Lukas 2,52)
In diesem Kontext ist auch verständlich, warum alles durch ihn (Kol 1,16) geschaffen wurde. Auf Jesus liegt die Weisheit JHWHs und alles ist durch die Weisheit geschaffen. Der führende britische Neutestamentler Prof. Dunn meint dazu, Paulus habe nie versucht Menschen von einem präexistenten Wesen oder einer präexistenten Weisheit zu überzeugen. Die Weisheit Gottes ist aktiv in der Erschaffung, Offenbarung und Erlösung. Das Verständnis ist Jesus als weise Aktivität Gottes zu betrachten. Er ist der Ausdruck und die Verkörperung der Weisheit Gottes, besser als jede vorherige Manifestation derselben Weisheit, sei es in Schöpfung oder im alten Bund [2]. Die Weisheit und der Logos im Johannesprolog sind am Anfang mit Gott und durch es (nicht ihn) wurde alles gemacht. Prof. Kuschel hat es folgendermassen formuliert:
Personifikation und Präexistenz sind poetische Stilmittel zur Gestaltung des Ungestalteten, zur Veranschaulichung des Unanschaulichen, zur Bebilderung des Bilderlosen: Gottes selbst in seiner Offenbarung für die Menschen. Die Wirklichkeit Gottes bekommt mit Hilfe einer so verspielt-spielerischen weiblichen Figur wie die Weisheit Dynamik und Schönheit. Gott selbst wird denkbar in Kategorien wie Energie, Geist, Wort und Licht. [3]
[1] Anthony Buzzard: Die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes, S. 163-164
[2] James D.G. Dunn: Christology in the Making, S. 195-196
[3] Karl-Josef Kuschel: Geboren vor aller Zeit? S. 261