Beweist 1. Korinther 10,1-4 die Präexistenz Christi?
Denn ich will nicht, dass ihr in Unkenntnis darüber seid, Brüder, dass unsere Väter alle unter der Wolke waren und alle durch das Meer hindurchgegangen sind und alle in der Wolke und im Meer auf Mose getauft wurden und alle dieselbe geistliche Speise assen und alle denselben geistlichen Trank tranken, denn sie tranken aus einem geistlichen Felsen, der begleitete. Der Fels aber war der Christus. (1Kor 10,1-4 Elb)
Auf Grundlage dieses Textes wird behauptet, dass Jesus persönlich das Volk Israels durch die Wüste ins verheissene Land begleitete. In 5Mo 32,4 und Ps 18,2 wird JHWH als Fels bezeichnet. Wir haben nun JHWH und Jesus als Fels. Somit könnten beide ein und dasselbe sein oder der Messias ein präexistentes (Engel-)Wesen.
Buzzard erklärt die hebräische Art zu sprechen, sowie die Verwendung von Symbolen in diesem Zusammenhang: [1]
Der unmittelbare Zusammenhang von 1.Kor. 10,4 schliesst uns auf, wie Paulus denkt. Paulus sieht die Erfahrungen Israels in der Wüste als Beispiele, "Typen" oder Modelle gegenwärtig christlicher Erfahrungen. Wie Paulus sagt: "All dies wiederfuhr jenen als Vorbild..." (1.Kor. 10,11). Der Durchzug Israels durch das Rote Meer war ein Sinnbild für die Taufe. Die "geistliche" Nahrung, die in Vers 3 erwähnt wird, ist klarerweise das Manna, welches über einen Zeitraum von 40 Jahren auf wundersame Art täglich gegen wurde. Sie tranken auch von einem "geistlichen Felsen".
Diesen einzelnen Hinweis auf den Felsen, der dem Volk Israels folgte, als Beweis für einen "vor-menschlichen" Jesus zu nehmen, verfehlt den Sinn der Lektion von Paulus. Es übersieht auch die Tatsache, dass die Juden nichts anderes als einen menschlichen Messias erwarteten. Ein näherer Blick auf die Geschichte im Alten Testament, die Paulus im Sinn hatte, zeigt uns, dass es zwei Gegebenheiten gibt, bei denen auf der Wanderung der Israeliten durch die Wüste ein Fels erwähnt wird. Es ist wichtig, den Unterschied zwischen den beiden zu bemerken.
Die erste geschah gleich, nachdem das Manna das erste Mal auf so wundersame Weise gegeben worden war. Israel kam nach Rephidim und begann sofort über den Mangel an Wasser zu murren. Daraufhin befahl Gott Mose, den Felsen zu schlagen. Es kam Wasser heraus und der Durst des Volkes wurde gestillt (2.Mo. 17,1-6). Der Schlag auf den Felsen symbolisierte die Tatsache, dass Christus, unser Felsen, später für die Sünden geschlagen wurde. Das Wasser deutet aber auch schon auf die Gabe des Heiligen Geistes an, der von Jesus als Wasser des Lebens beschrieben wird: "Wenn jemand dürstet, so komme er zu mir und trinke" (Joh. 7,37). Der Felsen in der Wüste war eine Darstellung des Messias, der als Geber des Heiligen Geistes kommen würde.
Das zweite Vorkommen eines Felsens geschieht gegen Ende der Wüstenwanderung. Wieder murrte Israel wegen des Wassermangels und wiederum sorgte Gott für ihre Bedürfnisse. Diesesmal befahl er Mose, zu dem Felsen zu sprechen, aber in seinem Zorn gehorchte Mose nicht und schlug den Felsen zweimal (4.Mose 20,1-20). Weil er den Felsen schlug, anstatt mit ihm zu sprechen, wurde Mose schuldig, den Sinn des "Modells" zerstört zu haben. Der Felsen in 2. Mose sybolisierte Christus im Fleisch, zerschlagen, um uns das Wasser des Lebens zu geben, während der Felsen in 4. Mose Christus als Hohepriester darstellt, der nicht zweimal geschlagen werden darf, sondern den man um das Wasser des Lebens anspricht.
Das erste Gleichnis begab sich am Beginn der Wanderung, das zweite am Ende; beide Gleichnisse sind eine Parabel über die bleibende Gegenwart Christi mit seinem Volk während seiner "Wüstenwanderung", der christlichen Reise hin zum "verheissenen Land" des Königreiches Gottes.
Die beiden Geschehnisse, die wir eben betrachteten, begaben sich an völlig verschiedenen Orten und es werden auch zwei verschiedene Wörter für "Fels" verwendet. In 2. Mose 17 steht das Wort tsur und in 4. Mose 20 steht sela. Was nun meint Paulus, wenn er schreibt "sie tranken von einem geistlichen Felsen, der ihnen folgte"? Logischerweise folgte dem Volk Israel kein wirklicher Felsen. Eine bessere Antwort wäre die, dass Paulus die Sprache christlicher Erfahrung gebraucht und sie auf das alttestamentliche Modell anwendet. Das zeigt sich deutlich bei seiner Bezugnahme auf die Taufe zu Beginn seiner Diskussion. Die Israeliten wurden nicht wirklich getauft. In der Tat, es wird uns gesagt, dass ihnen das Wasser nicht nahe kam; sie gingen trockenen Fusses durch das Rote Meer. Aber ihre Erfahrung ist für Paulus eine naheliegende Parallele und so schreibt er, sie seien "auf Mose getauft worden". Ebenso folgte ihnen der Fels nicht wirklich. Es war einfach ein "Modell" oder "Typ" Christi, der die Christen durch ihr Leben begleitet. Das ist auch genau das, was auch Paulus behauptet: "Alles dies wiederfuhr aber jenen als Vorbild..." (1.Kor. 10,11)
Prof. Kuschel kommt zum selben Ergebnis und schreibt in seinem umfangreichen Werk über die Präexistenz Christi folgendes: [2]
Und dieser Fels war Christus? Manche Exegeten sehen hier die Präexistenz Christi klar bezeugt... Was ist zu dieser Deutung zu sagen?
Eine solche Exegese ist gerade an dieser Stelle äusserst missverständlich, solange nicht die Begriffe "real" und "Präexistenz" näher bestimmt sind. Denn das eine ist sicher: In keinem Fall geht es hier um eine Art Präexistenz, wie wir sie bisher weisheitstheologisch oder apokalyptisch kennengelernt haben; eine Weise des Seins bei Gott, in Gottes Ewigkeit vor der Weltschöpfung. Geht es hier doch um eine einzelne Szene aus dem Ablauf der Geschichte, der Geschichte Israels nämlich. Zum anderen ist die Form der Aussage ja keine "dogmatische" Reflexion auf die Person Christi, sondern eine typologische Interpretation eines alttestamentlich wichtigen Heils-Ereignisses, wie es auch in den Psalmen 78 und 106 sowie Neh 9,9-20 rekapituliert wird und wie es schon damals durch Philo von Alexandrien typologisch gedeutet worden war: das Manna und der Felsen als Allegorien des universellen Logos und der personifizierten Wahrheit.
Und Paulus deutet diese Exodus-Erzählung ja selber als "typikos" (1.Kor. 10,11), als eine Episode also, deren Sinn über sich hinausweist. Anders gesagt: "Paulus verstand Christi Aktivität in den Ereignissen des Alten Testaments typologisch und nicht wörtlich", wie der britische Patristiker G.W.H. Lampe zu Recht interpretiert.
Und zum dritten ist der Kontext dieser Stelle aller Beachtung wert. Es dürfte zu paränetisch, der typologische Satz viel zu spontan eingebaut sein, als dass wir es hier mit einer christologischen Grundsatzaussage zu tun hätten. Eduard Schweizer ist deshalb zuzustimmen: "Aus 1. Kor 10 lässt sich keine Christologie der Präexistenz im Alten Testament ableiten, weder so, dass "Christus" nur Chiffre für Gottes Gnade wäre, noch so, dass an eine heilsgeschichtlich niedriegere Stufe seiner Existenz gedacht wäre." Was also?
Das Schlüsselwort zum Verständnis dieser Passage dürfte das Wort "pneumatikos", "geistlich" sein. Denn liest man diese Geschichte "geistlich", wird klar, dass Paulus hier - im Gegensatz zu vielen heutigen christlichen Paulus-Interpreten - das Alte Testament nicht christologisch vereinnahmt (etwas nach dem Schema Verheissung - Erfüllung), sondern Bezüge zwischen damals und heute herstellt.
Paulus will offensichtlich klarmachen: Es gibt (unter der Perspektive von Gottes Handeln) einen Zusammenhang von damals und heute, von der Situation der Wüstenwanderung und der Situation in Korinth, von den Juden einst und den Christen jetzt. Die allegorische Gleichung Christus = geistiger Fels ist dazu der Schlüssel, der den Sinnzusammenhang auch der anderen erwähnten Ereignisse erst aufschliesst, der sonst verborgen bliebe. Anders könnte ja auch von einer "Taufe" auf Mose (die so gar nicht stattgefunden hat) nicht geredet werden. Es geht hier also um einen neuen "Blick" auf die Geschichte Israels aus der Perspektive Christi, des erhöhten Herrn, einer Perspektive des Geistes.
Chann bemerkt, dass Jesus kein präexistierendes Wesen sein muss, damit wir gerettet werden. Das Heil hat seine Quelle in JHWH. Wasser symbolisiert Leben und Jesus ist der Fels aus dem das Wasser entspringt. Doch die ursprüngliche Quelle, der Geber jeder Gabe und jedes Vollkommenen Geschenks ist JHWH selbst (Jak. 1,17). [3]
Der führende britische Neutestamentler Prof. James Dunn bestätigt ebenfalls die typologische Sicht, welche auch die alexandrinischen Juden teilten und hält es für sehr unwahrscheinlich, dass 1.Kor. 10,4 für eine Präexistenz Jesu spricht. [4]
Nachdem Gott vielfältig und auf vielerlei Weise ehemals zu den Vätern geredet hat in den Propheten, hat er am Ende dieser Tage zu uns geredet im Sohn, den er zum Erben aller Dinge eingesetzt hat, durch den [nicht mit ihm] er auch die Welten gemacht hat; (Hebr 1,1-2 Elb)
Dieser Vers wiederspricht der Theorie einer realen Präexistenz. Ausser man geht davon aus, dass der präexistente Messias vor seiner Geburt stumm war oder zumindest nicht sprechen durfte. In alttestamentlicher Zeit, sendete GOTT seine Engel (Hebr 2,2; vgl. Apg 7,38 & 7,53).
So spricht der HERR, dein Erlöser und der dich vom Mutterleib an gebildet hat: Ich, der HERR [JHWH], bin es, der alles wirkt, der den Himmel ausspannte, ich allein, der die Erde ausbreitete — wer war bei mir? (Jes 44,24 Elb)
Keine Binität oder Trinität war bei der Schöpfung aktiv, sondern allein der VATER. Es ist auch erstaunlich, dass der Messias in allen vier Evangelien mit keinem Wort erwähnt, was er alles im AT gewirkt hatte.
Der Messias war im AT der Same (1Mo. 22,18; 1Mo 49,10; 2Sam 7,12-14), der Nachkomme (Röm 1,3), weil er noch nicht aktiv im Dienste GOTTES stand. Selbstverständlich präexistierte der Messias Jeshua. Doch nicht auf griechisch-hellenistische (real), sondern auf biblisch-hebräische (ideal) Weise:
1. Buzzard/Hunting: Die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes. Die selbst zugefügte Wunde der Christenheit 107-108
2. Kuschel: Geboren vor aller Zeit? Der Streit um Christi Ursprung 362-363
3. Chang: The Only True God. A Study of Biblical Monotheism 266
4. Dunn: Christology in the Making. A New Testament Inquiry into the Origin of the Doctrine of the Incarnation 184
5. Weber: Jüdische Theologie - auf Grund des Talmud und verwandter Schriften 355