Ist Joh 1,15 ein Beweis für die Präexistenz Jesu?
Als Johannes der Täufer seinen Nachfolger ankündigte, machte er unter anderem die folgende Aussage:
„Johannes zeugt von ihm und rief und sprach: „Der nach mir Kommende ist mir vor, denn er war vor mir.“ Joh 1,15 (Siehe auch Joh 1,30) Elberfelder Übersetzung
Dieser Text scheint auszusagen, dass Jesus vor Johannes gewesen ist. Von den meisten Auslegern wird dies denn auch so verstanden, dass Johannes hier eine Aussage über die Präexistenz Jesu gemacht hat. Also in dem Sinnen von: „denn er war zeitlich vor mir.“
Das Problem dieser Übersetzung liegt darin, dass sie einmal eine Aussage über den Rang und dann eine Aussage über die Zeit zu enthalten scheint. Der Logik verlangt aber, dass sich beide Aussagen entweder auf die Zeit, oder aber beide Aussagen auf den Rang beziehen. Sonst bleibt die Aussage ohne Sinn. Diesen Sachverhalt haben einige Übersetzer erkannt und übersetzen von daher.
„Der nach mir kommt, ist vor mir geworden, denn er war eher als ich.“ Joh 1,15
Was die Existenz von Johannes dem Täufer betrifft, so wird kein Ausleger, der an eine Präexistenz Jesu glaubt, bezweifeln, dass Johannes tatsächlich im Leib der Elisabeth gezeugt worden ist, von ihr getragen und von ihr geboren worden ist.
In ähnlicher Weise ist aber auch Jesus im Leib der Maria gezeugt worden und von ihr getragen und geboren worden. Bezüglich des Altersunterschieds zwischen Johannes und Jesus lehrt das NT aber, dass Johannes mindestens 6 Monate älter als Jesus war.
„Im sechsten Monat (der Schwangerschaft Elisabeths) aber wurde der Engel Gabriel von GOTT in eine Stadt von Galiläa mit Nazareth gesandt.“ Lk 1,26
„Und siehe Elisabeth, deine Verwandte, auch sie erwartet einen Sohn in ihrem Alter, und dies ist der sechste Monat bei ihr, die unfruchtbar genannt war.“ Lk 2,36
Wenn Jesus nun nach den Worten des Täufers aber eher bzw. vor gewesen sein sollte, dann ergibt sich das Problem, dass es sich um bei Jesus und Johannes um zwei Personen handelt, die man gar nicht miteinander vergleichen kann. Im Falle von Jesus würde es sich um ein himmlisches Wesen handeln, im Falle von Johannes dem Täufer um einen reinen Menschen.
Zwischen einem himmlischen Wesen und einem Menschen gibt es aber kein Vergleich. Man muss entweder himmlische Wesen miteinander vergleichen oder aber man muss Menschen miteinander vergleichen.
Dementsprechend sollte Johannes 1,15 nicht nur die Präexistenz von Jesus, sondern auch die Präexistenz von Johannes lehren. Wie aber schon erwähnt, glaubt niemand, dass Johannes der Täufer Präexistenz hatte.
Somit stellt sich die Frage, ob es eine Möglichkeit gibt, dass Johannes Präexistenz gehabt haben könnte?
Den jüdischen Lehrern galten alle Dinge und Personen als vorweltlich, und zwar in dem Sinne, dass sie in den Gedanken und in der Vorsehung GOTTES existierten. Die jüdischen Lehrer glaubten auch, dass der Messias (der Gesalbte) vor allen anderen Dingen und Personen in den Gedanken GOTTES aufgestiegen war. Somit muss also Jesus Christus vor Johannes dem Täufer gewesen sein und zwar in der Erwählung und Vorsehung GOTTES.
In diesem Fall gibt es aber noch die Schwierigkeit damit, dass Johannes von Jesus als dem nach ihm Kommenden gesprochen hat. Wenn man eine Aussage darüber macht, dass jemand nachher kommt und sagt, dass dieser vorher gewesen ist, so klingt dies nicht sinnvoll. Man hat wieder das Problem der Verwirrung auch von Seiten des Volkes, welches die Rede von Johannes hörte.
Eine Lösung für das Problem gibt es nur, wenn es bei der Aussage von Johannes über Jesus ausschließlich um den Rang ging. Dieses Verständnis wird durch andere Aussagen, welche Johannes über Jesus gemacht hat, bestätigt:
„Ich zwar taufe euch mit Wasser zur Buße, der aber nach mir kommt ist stärker als ich, dessen Sandalen zu tragen ich nicht würdig bin.“, er wird euch mit heiligem Geist und mit Feuer taufen.“ Mt 3,11
„Und er predigte und sagte: Nach mir kommt der, der stärker ist als ich. Ich bin nicht würdig ihm bebückt den Riemen seiner Sandalen zu lösen.“ Mk 1,7
„Ich zwar taufe euch mit Wasser, es kommt aber ein Stärkerer als ich und ich bin nicht würdig ihm den Riemen der Sandalen zu lösen, er wird euch mit heiligem Geist taufen.“ Lk 1,16
An dieser Stelle seien die beiden Worte genannt, welche der Täufer in Johannes 1,15 und 1,30 benutzte: emprosthen und protos. Beide Wörter können den Rang und die Position von einer Sache oder einer Person vor anderen bezeichnen. So kann emprosthen die folgenden Bedeutungen haben: Vorrang, voraus, voran und vorn. Protos aber kann die nachstehend erwähnten Bedeutungen haben: Haupt, Oberer oberster, erster, in Bezug auf den Rang, zuerst, erst, als erstes und vornehmlich. Also ist die folgende Übersetzung möglich von Johannes 1,15 und 1,30 möglich:
„Der nach mir Kommende hat den Vorrang vor mir, denn er war mein/mir Haupt/Oberer.“
Als Messias und Gesalbter war Jesus eindeutig, das Haupt des Johannes, für den Johannes lediglich eine Dienstleistung zu vollbringen hatte.
Ein weiterer Aspekt dessen, warum Johannes Jesus sein Haupt oder seinen Oberen nannte, mag darin liegen, dass Johannes sich schon immer an dem tadellosen und vorbildlichen Charakter Jesu und an seiner schon früh vorhandenen Weisheit orientiert hatte. Man kann davon ausgehen, dass sich Jesus und Johannes schon näher kannten. So war Maria, die Mutter Jesu mit Elisabeth, der Mutter des Johannes verwandt.
„Und siehe Elisabeth, deine Verwandte, auch sie erwartet einen Sohn in ihrem Alter und dies ist der sechste Monat bei ihr, die unfruchtbar genannt war.“ Lk 1,36
Einige Zeit später besuchte Maria ihre Verwandte Elisabeth:
„Und sie kam in das Haus des Zacharias und begrüßte die Elisabeth.“ Lk 1,40
Man kann sogar annehmen, dass die Eltern von Johannes nach der Geburt ihres Sohnes nicht mehr so lange lebten, weil sie schon sehr alt waren. Es könnte daher sogar sein, dass Joseph und Maria Johannes zu sich nahmen und dass er zusammen mit Jesus aufgewachsen ist. Abgesehen davon dürfte Johannes, ähnlich wie Jesus etwa 30 Jahre alt gewesen sein, als er seinen Dienst begann.
Jedenfalls hatte Johannes genug Zeit den Vorrang und die Hauptstellung Jesu zu erkennen. Die Aussage von Johannes über Jesus, dass er ihn nicht kannte ist so zu verstehen, dass Johannes nicht wusste, dass Jesus der Messias war. Sie bedeutet nicht, dass Jesus und Johannes sich nicht kannten.
Dagegen spricht schon die Tatsache, dass sie Verwandte waren und dass in der damaligen Zeit und noch heute Verwandte im Orient sehr eng zusammenhielten.
Fazit:
Jesus ist vor Johannes, aber im Rang, der Stellung und dem vorbildlichen Leben, aber nicht nach der Zeit.